1. Begegnungstag [ Seite 6 von 6]
Eine Geschichte
Der Baum - ein Freund und Spiegel
Vor meinem Fenster steht ein großer, schöner Baum. Ich weiß nicht, wer ihn gepflanzt hat, und auch nicht, wie alt er ist. Aber er ist mir vertraut geworden. Er spricht zu mir. Nicht in der Sprache der Menschen, sondern in der Sprache der Bäume. Manchmal, wenn ihn der Wind bewegt, redet er laut und heftig. Manchmal lässt er nur ein Blatt fallen und gibt mir ein Zeichen. Und oft steht er einfach nur da. Und doch ist alles an ihm Leben und Bewegung.
Ich habe gelernt, auf meinen Baum zu hören und seine Sprache zu verstehen. Ich möcht dir gern übersetzen, was er mir sagt:
„Mein lieber Mensch, ich weiß, du bist ein vernunftbegabtes Wesen, ich dagegen bin eine Kreatur ohne Intelligenz. Ich weiß, du bist mir haushoch überlegen. Und trotzdem bist du mein Freund. Du blickst mich an und erkennst dich selbst wie in einem Spiegel. Vieles kannst du freilich nicht mit den Augen sehen: das, was mir im Verborgenen Halt gibt zum Stehen und Kraft zum Wachsen. - Du weißt, was ich meine: Meine Wurzeln reichen in die Tiefe des Bodens, sie nehmen Wasser und Nahrung auf, damit ich leben kann.
Du, mein Freund, hast auch Wurzeln. Keiner kann sie sehen, nicht einmal du selbst. Aber du spürst: Etwas in mir reicht hinab in eine große Tiefe. Etwas in mir gibt mir einen festen Halt. Deine Tiefe ist nicht der Boden der Erde. Deine Tiefe ist die Sehnsucht nach dem Sinn, ist Gott.
Es erschreckt mich, wenn Menschen sagen: ’Ich glaube nur, was ich sehe!’. Das ist so, als würde ich behaupten: ‚Ich habe keine Wurzeln, denn ich sehe sie nicht!’.
Natürlich kann ich dich gut verstehen, wenn du fragst: ’Wo ist denn meine Wurzel? Wo ist denn mein Gott? Kann ich mich auf ihn verlassen? ’ Ich kann verstehen, dass du Gott begreifen möchtest, um besser glauben zu können. Mir geht es ebenso: Ich möchte manchmal mit meinen Zweigen den Boden fühlen - so wie ich den Wind und den Regen fühlen kann. Aber es geht nicht. Meine Zweige sind zu kurz.
Du, lieber Freund, du hast zwar einen Verstand, der Unglaubliches zuwege bringt, aber bei allem Respekt vor dir muss ich doch sagen: Dein Verstand ist zu kurz, um Gott begreifen zu können. Versuche lieber, in deine Wurzel hinanzuspüren. Öffne dein Inneres, lass dich hinab in die Tiefe, und du wirst Gott finden.
Eines habt ihr Menschen uns Bäumen voraus: Ihr könnt euch drehen und wenden. Ihr könnt weggehen an andere Plätze. Ihr könnt euch bewegen im Wasser und in der Luft. - Das können wir nicht. Wir sind angewachsen.
Aber manchmal bin ich auch froh, dass ich so bin, wie ich bin. Wenn ich sehe, wie du hin und her geworfen wirst von der Gewalt deiner Gefühle, vom Suchen und Fragen und von der Unstetigkeit deines Lebens, dann möchte ich dir gern etwas von meinem Standvermögen schenken. Ich glaube, wir Bäume haben eine Eigenschaft, die bei euch Menschen abhanden gekommen ist: Wir bleiben da, wo wir hingehören. Wir sind treu.
Ich weiß, dass mancher von euch denkt: Ich will doch nicht festwachsen und mein Leben lang gebunden sein. Ich brauche meine Freiheit. Ich vermute, dass sich da ein böses Missverständnis in eure Köpfe eingeschlichen hat. Freiheit und Bindung seien Gegensätze, die einander ausschlössen. Ich mache eine ganz andere Erfahrung. Warum können sich meine Äste und Zweige verändern? Warum kann sich meine Krone unbeschwert im Wind wiegen? Warum können an mir Blätter wachsen und Blüten und Früchte? Doch nur, weil sie mit dem Stamm verbunden sind, der ihnen Halt gibt. Mein Stamm ist mein Charakter. Ich stehe zu dem, was ich bin. Wenn ich die Stürme meines Lebens nicht aushielte, würde ich umgerissen und käme zu Fall.
Weil ich aber fest stehe, kann ich wachsen. Weißt du, ich bin nie fertig. Mein Leben geht immer weiter und bringt ständig etwas Neues. Wenn mir die Herbststürme alles geraubt haben, was mein Leben bunt macht: die Blätter und die Früchte eines langen Sommers, dann sammle ich im Winter neue Kraft und treibe im Frühling neue Knospen und Blüten. Ich könnte dir von vielen Verlusten und Enttäuschungen erzählen. Sie haben mir sehr wehgetan. Sie haben ihre hineingeschrieben in die Rinde meines Stammes. Ich bin durch meine Verwundungen und Verluste nicht erbittert, sondern stark geworden. Ich habe immer wieder neu angefangen. Das hält mich am Leben. Mein lieber Mensch! Ich möchte dir gern Freund und Spiegel sein. Ich möchte dir helfen, deinem Wesen treu zu sein. Bleibe, wie du bist - aber sei niemals fertig.
Mit einem heiteren Gruß!
Dein Freund und Nachbar - der Baum“